Schwere COVID-19-Verläufe: Neutrophile im Dauereinsatz (2024)

Ob COVID-19 mild oder schwer verläuft, hängt nicht nur von der Aggressivität von Coronavirus ab, sondern auch von den Immunreaktionen der Infizierten. Berliner Forscher*innen konnten nun mit Einzelzell-Analysen zwei typische molekularbiologische Muster identifizieren, schreiben sie in „Cell Reports“.

Gemeinsame Pressemitteilung des Berlin Institute of Health in der Charité (BIH) und des Max Delbrück Center

Unsere Studie zeigt, wie leistungsstark die Kombination von Einzelzelltechnologien und modernster bioinformatischer Analyse ist, um komplexe Krankheiten wie die massiven Lungenentzündungen bei COVID-19 zu erforschen.

Wer den Verlauf von Infektionen mit SARS-CoV-2 günstig beeinflussen will, braucht Informationen über die Frühphase der Erkrankung. Untersuchungen an Patient*innen, die bereits an COVID-19 erkrankt sind, greifen hier zu spät – anders als am Tiermodell. Dr. Samantha Praktiknjo vom Berlin Institute of Health in der Charité (BIH), die Forschungsgruppen um Professor Markus Landthaler vom Max Delbrück Center sowie Professor Jakob Trimpert von der Freien Universität Berlin sowie Forscher*innen der Charité – Universitätsmedizin Berlin haben nun mit Daten aus Einzelzell-Analysen bei Tier und Mensch nachvollzogen, was von der Infektion bis hin zur Organschädigung geschieht. Die Hauptakteure auf Zellebene sind demnach neutrophile Granulozyten (Immunzellen) und Endothelzellen (Gefäßwandzellen), schreiben sie in „Cell Reports“.

„Mittels Einzelzell-RNA-Analysen können wir die Genexpression in vielen einzelnen Zellen erfassen und die molekularbiologischen Vorgänge im Infektionsverlauf beobachten“, erklärt Samantha Praktiknjo, Forscherin am Berlin Institute of Health in der Charité und Letztautorin der gerade veröffentlichten Studie.

„Unsere Studie zeigt, wie leistungsstark die Kombination von Einzelzelltechnologien und modernster bioinformatischer Analyse ist, um komplexe Krankheiten wie die massiven Lungenentzündungen bei COVID-19 zu erforschen“, sagt Markus Landthaler, Forschungsgruppenleiter am Max Delbrück Center und ebenfalls Letztautor der Studie.

Einzelzellsequenzierungen von Lungenproben

Die Wissenschaftler*innen haben verfügbare Humandaten, die durch Analysen von bronchoalveolärer Flüssigkeit und Nasenabstrichen sowie Post-mortem-Untersuchungen der Lunge gewonnen wurden, systematisch mit den am Tiermodell gewonnenen Daten abgeglichen und ihre Relevanz für den Menschen überprüft. Als Tiermodell für COVID-19 haben sich Hamster als geeignet erwiesen, da sie mit denselben Varianten des Coronavirus infiziert werden können wie der Mensch und ein ähnliches Krankheitsbild zeigen. Per Einzelzell-RNA-Sequenzierung untersuchten die Forscher*innen Lungenbiopsien von gesunden und infizierten Tieren zu verschiedenen Zeitpunkten nach der Infektion. Sie verglichen die dynamischen zellulären und molekularen Prozesse bei zwei verschiedenen Hamsterspezies: beim Goldhamster, der milde COVID-19-Verläufe zeigt, und beim Roborovski-Zwerghamster, bei dem die Erkrankung regelhaft schwer verläuft.

Enlarge © Felix Petermann, MDC

Mittels Einzelzell-RNA-Sequenzierung lässt sich herausfinden, welche Abschnitte der Erbinformation die jeweiligen Zellen zum Zeitpunkt der Entnahme gerade aktiviert haben. Dies ermöglicht einen Überblick darüber, was in den verschiedenen Zellen einer Gewebeprobe geschieht.

Die Forschung der letzten Jahre hat ergeben, dass für schwere Verläufe der COVID-19-Infektion nicht allein die Aggressivität des Virus verantwortlich ist. Auch Entzündungsreaktionen des Wirtsorganismus spielen eine Rolle. Entzündungen sind für die Erregerabwehr nötig und ganz normal. Aber wenn die Entzündung überschießt und große Mengen an entzündungsfördernden Botenstoffen freigesetzt werden, entstehen Schäden an unterschiedlichen Organen.

Frühe Weichenstellung für schweres COVID-19

Unbeantwortet war bislang die Frage, wie und wann genau die Weichenstellung für den schweren Krankheitsverlauf erfolgt. „Mit Hilfe tiefergehender Einzelzell-RNA-Analysen und neuartiger Methoden des maschinellen Lernens war es uns möglich, die Zellaktivitäten von der Infektion an zu charakterisieren", erläutert BIH-Forscherin Samantha Praktiknjo.

Unsere Studien bestätigen und erweitern die Erkenntnisse zur Rolle überschießender Immun- und Entzündungsreaktionen bei COVID-19.

Tatsächlich konnten die Wissenschaftler*innen am Tiermodell zwei unterschiedliche Muster der Genaktivierung identifizieren. Sowohl bei leichten als auch bei schweren COVID-19-Verläufen werden kurz nach der Infektion die neutrophilen Granulozyten auf den Plan gerufen, die zur ersten Abwehrlinie der angeborenen Immunantwort gehören. Bei milden Verläufen werden die Neutrophilen kurz aktiviert. Dann jedoch übernehmen andere Immunzellen wie die natürlichen Killerzellen (Typ-1-Immunantwort). Bei schweren Verläufen dagegen bleiben die Neutrophilen dauerhaft im Action-Modus (Typ-3-Immunantwort). Das führt zu einer Überflutung mit proinflammatorischen Signalen und in der Lunge zu massiven Entzündungsreaktionen.

Typisch für schwere COVID-19-Verläufe sind Schäden an der Auskleidung der Blutgefäße, dem Endothel, an unterschiedlichen Organen. Die Forscher*innen stellten bei beiden Hamsterarten eine starke Aktivierung des Gefäßendothels der Lunge fest, die proinflammtorische Signale der neutrophilen Granulozyten ausgelöst hatten. Beim Roborovski-Hamster resultierten daraus schwere Endothelschäden; beim Goldhamster dagegen kehrten die Endothelzellen in den Ruhemodus zurück, ohne großen Schaden genommen zu haben. „Mit unserer Methodik haben wir die tragende Rolle der Endothelzellen im Krankheitsverlauf erstmals dokumentieren können“, unterstreicht Dr. Stefan Peidli, einer der Erstautor*innen der Studie.

„Unsere Studien bestätigen und erweitern die Erkenntnisse zur Rolle überschießender Immun- und Entzündungsreaktionen bei COVID-19“, ergänzt Samantha Praktiknjo. „Wir werden weiter in diese Richtung forschen und hoffen, dabei Ansatzpunkte für innovative Therapien zu finden, mit denen sich das Infektionsgeschehen frühzeitig in die richtigen Bahnen lenken lässt.“

Text: BIH

Weiterführende Informationen

  • Coronaforschung am Max Delbrück Center
Landthaler Lab RNA Biologie und Posttranscriptionale Regulation

Literatur

Stefan Peidli, Geraldine Nouailles et al. (2024): „Single-cell-resolved interspecies comparison shows a shared inflammatory axis and a dominant neutrophil-endothelial program in severe COVID-19“. Cell Reports, DOI: https://doi.org/10.1016/j.celrep.2024.114328

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Max Delbrück Center

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (Max Delbrück Center) gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 70 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organ-übergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das Max Delbrück Center fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am Max Delbrück Center arbeiten 1800 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete Max Delbrück Center zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin.

Berlin Institute of Health in der Charité (BIH)

Die Mission des Berlin Institute of Health in der Charité (BIH) ist die medizinische Translation: Erkenntnisse aus der biomedizinischen Forschung werden in neue Ansätze zur personalisierten Vorhersage, Prävention, Diagnostik und Therapie übertragen, umgekehrt führen Beobachtungen im klinischen Alltag zu neuen Forschungsideen. Ziel ist es, einen relevanten medizinischen Nutzen für Patient*innen und Bürger*innen zu erreichen. Dazu etabliert das BIH als Translationsforschungsbereich in der Charité ein umfassendes translationales Ökosystem, setzt auf ein organübergreifendes Verständnis von Gesundheit und Krankheit und fördert einen translationalen Kulturwandel in der biomedizinischen Forschung. Das BIH wurde 2013 gegründet und wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und zu zehn Prozent vom Land Berlin gefördert. Die Gründungsinstitutionen Charité – Universitätsmedizin Berlin und Max Delbrück Center waren bis 2020 eigenständige Gliedkörperschaften im BIH. Seit 2021 ist das BIH als so genannte dritte Säule in die Charité integriert, das Max Delbrück Center ist Privilegierter Partner des BIH.

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